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Ein Blick auf das Kalama-Sutta

Title: Ein Blick auf das Kalama-Sutta

Summary:

Ein Blick auf das Kalama-Sutta

von

Bhikkhu Bodhi

Übersetzung ins Deutsche von:

Lothar Schenk

Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden

In dieser Ausgabe des Newsletter haben wir den Leitartikel mit der Rubrik „Suttastudien“ zusammengelegt, um einen frischen Blick auf eine häufig zitierte Lehrrede des Buddha zu werfen, das Kalama Sutta. Diese Rede — zu finden in ihrer Übersetzung im Wheel Nr. 8 — wird als Buddhas „Charta der freien Meinungsbildung“ bezeichnet, und obgleich die Lehrrede gegenüber dogmatischen Erlassen und der Forderung nach blindem Glauben gewiss einen energischen Aufruf zur vorurteilsfreien Prüfung darstellt, ist es fraglich, ob sich mit dieser Sutta sämtliche Positionen stützen lassen, die man ihr zugeschrieben hat. Auf der Grundlage einer einzigen, aus dem Zusammenhang zitierten Textstelle wurde der Buddha zum pragmatischen Empiriker stilisiert, der jegliche festen Lehr- und Glaubenssätze ablehne, und dessen Dhamma einfach eine Art Sammelkiste mit freidenkerischen Wahrheiten sei, aus der jedermann annehmen oder verwerfen könne, was ihm beliebe.

Aber rechtfertigt das Kalama-Sutta wirklich solche Ansichten? Oder begegnet uns in diesen Behauptungen einfach nur eine Anzahl neuerlicher Variationen jener unsäglichen alten Neigung, die Buddhalehre gemäß denjenigen Auffassungen zu deuten, die einem selbst genehm sind — oder denjenigen gefallen sollen, denen man predigt? Werfen wir also einen sorgfältigen Blick auf das Kalama-Sutta, so sorgfältig jedenfalls wie es der begrenzte Platz zulässt, der für diesen Artikel zur Verfügung steht, und vergessen wir dabei nicht, dass man zum Verständnis von Buddhas Äußerungen unbedingt berücksichtigen muss, was er mit einer bestimmten Aussage bezweckte.

Jene so oft zitierte Textstelle lautet wie folgt: „Kommt, ihr Kalamer. Geht nicht danach, was durch wiederholtes Hören angeeignet wurde, nicht nach der Überlieferung, nicht nach Hörensagen, nicht nach heiligen Schriften, nicht nach Vermutungen, nicht nach Dogmen, nicht nach plausiblen Erwägungen, nicht nach der Vorliebe für häufig durchdachte Vorstellungen, nicht nach der scheinbaren Befähigung eines Anderen, nicht nach der Überlegung: 'Der Mönch ist ja unser Lehrer'. Wenn ihr selber erkennt: 'Diese Dinge sind schlecht, tadelnswert, werden von Weisen missbilligt; ausgeführt und befolgt führen diese Dinge zu Unheil und Übel', dann gebt sie auf… Wenn ihr selber erkennt: 'Diese Dinge sind gut, tadellos, werden von Weisen gelobt; ausgeführt und befolgt führen diese Dinge zu Wohlergehen und Glück', dann nehmt sie an und behaltet sie bei.“

Nun ist es so, dass diese Aussage, wie alles, was der Buddha sagte, in einem bestimmten Kontext geäußert wurde — mit Blick auf eine bestimmte Zuhörerschaft und bestimmte äußere Umstände — so dass man sie zu diesem Kontext in Beziehung setzen muss, um sie zu verstehen. Die Kalamer, Bürger der Stadt Kesaputta, hatten Besuch von religiösen Lehrern mit unterschiedlichen Ansichten gehabt, von denen jeder seine eigenen Lehrsätze pries und die seiner Vorgänger niedermachte. Das hatte die Kalamer in Verwirrung gestürzt, und als nun „der Asket Gotama“ in ihre Stadt kam, der den Ruf hatte, ein Erwachter zu sein, suchten sie ihn in der Hoffnung auf, dass er möglicherweise ihre Zweifel zerstreuen könne. Aus dem weiteren Verlauf der Lehrrede wird deutlich, dass es bei den Themen, die bei ihnen für Verwirrung gesorgt hatten, um die Tatsache von Wiedergeburt und kammischer Vergeltung für gute und schlechte Taten ging.

Der Buddha beginnt damit, dass er den Kalamern versichert, dass es unter solchen Umständen durchaus angebracht sei, wenn sie Zweifel hätten, eine Bestätigung, welche zur freien Meinungsbildung ermutigt. Als nächstes äußert er die oben zitierten Sätze mit dem Rat an die Kalamer, jene Dinge aufzugeben, von denen sie selber erkannt hätten, dass sie schlecht seien, und sich jene Dinge zu eigen zu machen, von denen sie selber erkannt hätten, dass sie gut seien. Ein solcher Rat könnte gefährlich sein, wenn er Leuten mit einem unentwickelten Sinn für sittliches Verhalten gegeben würde, und folglich können wir annehmen, dass der Buddha die Kalamer als Leute mit höherem moralischem Feingefühl betrachtete. Auf jeden Fall ließ er sie in dieser Frage nicht völlig auf sich gestellt bleiben, sondern brachte sie durch Befragen zu der Erkenntnis, dass Gier, Hass und Verblendung, weil sie bei einem selbst und bei anderen zu Unheil und Leiden führen, aufzugeben seien, und dass die gegenteiligen Geisteshaltungen, da sie für alle förderlich sind, zu entwickeln seien.

Als nächstes erklärt der Buddha, dass ein „edler Schüler, frei von Begierde und Übelwollen, unverwirrt“ mit einem von grenzenloser Güte, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut erfüllten Geiste die Welt durchdringe. Solcherart von Hass und Bosheit geläutert, erfreue er sich hier und jetzt eines vierfachen „Trostes“: Wenn es eine Fortexistenz und ein kammisches Wirken gäbe, dann würde er zu einer freudvollen Wiedergeburt gelangen, wenn es dies aber nicht gäbe, würde er immer noch hier und jetzt glücklich leben; wenn einem Übeltäter üble Folgen widerführen, so würde ihm nichts Übles widerfahren; wenn aber einem Übeltäter keine üblen Folgen widerführen, so sei er sich dennoch seiner eigenen Lauterkeit gewiss. Daraufhin geben die Kalamer ihrer Wertschätzung für Buddhas Rede Ausdruck und nehmen beim Dreifachen Juwel ihre Zuflucht.

Bedeutet das im Kalama-Sutta Gesagte nun tatsächlich, wie es oft behauptet wird, dass jemand, der dem Buddhaweg folgt, auf jegliche Glaubens- und Lehrsätze verzichten könne, dass er seine eigene persönliche Erfahrung zum alleinigen Maßstab für die Beurteilung von Buddhas Aussagen nehmen solle und als Grundlage für die Ablehnung dessen, was damit nicht zu vereinbaren sei? Es stimmt, dass der Buddha nicht von den Kalamern verlangt, dass sie seine Worte allein im Vertrauen auf seine Person akzeptieren sollen, aber behalten wir dabei einen wichtigen Punkt im Auge: zu Beginn der Rede waren die Kalamer keine Nachfolger Buddhas. Sie suchten ihn lediglich als Ratgeber auf, der möglicherweise ihre Zweifel zerstreuen mochte, aber sie kamen nicht zu ihm als dem Thatagata, dem Entdecker der Wahrheit, um sich von ihm den Weg zu spirituellem Wachstum und zur letztendlichen Befreiung weisen zu lassen.

Da die Kalamer noch nicht so weit waren, den Buddha gemäß seiner einzigartigen Berufung als Verkünder der befreienden Wahrheit anzusehen, wäre es für ihn folglich nicht angebracht gewesen, ihnen den nur in seiner eigenen Schule zu findenden Dhamma zu verkünden: solche Lehren wie die Vier Edlen Wahrheiten, die drei Merkmale und die auf diesen beruhenden Vorgehensweisen geistiger Betrachtung. Diese Lehren sind ausdrücklich an diejenigen gerichtet, die den Buddha als ihren Führer zur Befreiung anerkannt haben, und in den Sutten erläutert er sie nur denjenigen, die „Vertrauen in den Thatagata gefasst haben“ und welche den notwendigen geistigen Zuschnitt besitzen, um sie zu verstehen und anzuwenden. Am Beginn der Unterredung waren die Kalamer für ihn jedoch noch nicht der fruchtbare Mutterboden, auf den er den Samen seiner befreienden Botschaft hätte säen können. Noch verwirrt durch die widersprüchlichen Behauptungen, denen sie ausgesetzt gewesen waren, waren sie sich nicht einmal über die fundamentalen Grundlagen sittlichen Verhaltens völlig im Klaren.

Dessen ungeachtet bietet der Buddha, nachdem er den Kalamern den Rat gegeben hat, sich nicht auf die gängige Überlieferung, auf abstrakte Schlussfolgerungen oder charismatische Gurus zu verlassen, ihnen einen Maßstab an, der unmittelbar nachvollziehbar ist und der sich als feste Grundlage für ein an sittliche Grundsätze gebundenes und geistiger Läuterung dienendes Leben eignet. Er zeigt, dass unabhängig davon, ob es ein Weiterleben nach dem Tode gibt oder nicht, ein innerhalb der Grenzen sittlicher Grundsätze geführtes, auf Liebe und Mitgefühl gegenüber allen Wesen gegründetes Leben hier und jetzt schon einen ihm unmittelbar innewohnenden Lohn mit sich bringt, ein inneres Glück und eine innere Geborgenheit, die dem zerbrechlichen Wohl bei weitem überlegen ist, das man durch die Verletzung sittlicher Grundsätze und das ungezügelte Ausleben der eigenen Begierden erlangen könnte. Denjenigen, denen nichts an einer weiteren Perspektive gelegen ist, die nicht bereit sind, irgendwelche über das derzeitige Leben hinausgehenden Überzeugungen bezüglich Fortexistenz und jenseitiger Welten zu hegen, sichert eine solche Belehrung wenigstens das gegenwärtige Wohlergehen und einen gefahrlosen Übergang zu einer günstigen Wiedergeburt — vorausgesetzt, dass sie nicht zu der falschen Ansicht gelangen, Fortexistenz und kammisches Wirken überhaupt abzulehnen.

Für diejenigen jedoch, die in der Lage sind, ihren Blick auch auf die weiteren Horizonte unseres Daseins auszudehnen, deutet diese den Kalamern gegebene Belehrung über den unmittelbaren Bezug hinaus geradewegs auf den inneren Kern der Buddhalehre. Denn die drei Geisteszustände, deren Untersuchung der Buddha hier ins Gespräch bringt — Gier, Hass und Verblendung — sind nicht einfach nur Auslöser für falsches Verhalten oder moralische Geistestrübungen. Im Rahmen seiner eigenen Lehre sind sie die Grundbefleckungen — die Hauptursachen allen Gebundenseins und Leidens —, und die praktische Ausübung der Buddhalehre kann voll und ganz als die Aufgabe angesehen werden, diese Wurzeln des Üblen durch das zur Vollendung gebrachte Entwickeln der entsprechenden Gegengifte — Begierdelosigkeit, Güte und Weisheit — auszumerzen.

Somit bietet die Rede an die Kalamer einen Prüfstein, mit dem man Zuversicht in die Buddhalehre als stichhaltige Wegweisung zur Befreiung erlangen kann. Wir beginnen mit einer der unmittelbaren Überprüfung zugänglichen Lehraussage, deren Gültigkeit von jedermann bestätigt werden kann, der die moralische Integrität besitzt, ihren Folgerungen bis ins Letzte nachzugehen, nämlich mit der Aussage, dass die genannten geistigen Befleckungen sowohl im persönlichen Leben als auch im Gemeinschaftsleben zu Unheil und Leiden führen, dass ihre Beseitigung zu innerem Frieden und Glück führt, und dass die vom Buddha gelehrten Vorgehensweisen wirksame Mittel zu ihrer Entfernung darstellen. Indem man diese Lehraussage einer persönlichen Überprüfung unterzieht, wobei zunächst nur ein vorläufiges Vertrauen in den Buddha als Arbeitsgrundlage ausreicht, gelangt man schließlich zu einer festeren, auf eigener Erfahrung gegründeten Zuversicht in die befreiende und läuternde Kraft der Buddhalehre. Diese gewachsene Zuversicht in die Lehre bringt ein tieferes Vertrauen in den Buddha als Lehrer mit sich, und macht einen geneigt, auch solche von ihm verkündeten Grundsätze für die Suche nach Erwachung auf Vertrauensbasis zu akzeptieren, die noch jenseits der eigenen Fähigkeit zur Bestätigung liegen. In der Tat ist dies ein Kennzeichen für den Erwerb der rechten Ansicht in ihrer provisorischen Rolle als Vorläufer des gesamten Edlen Achtfachen Weges.

Teils als Reaktion auf religiösen Dogmatismus, teils als Verneigung gegenüber dem herrschenden Paradigma objektiver Wissenschaftlichkeit ist es Mode geworden, mit Verweis auf das Kalama-Sutta zu behaupten, dass die Lehre Buddhas ohne jegliche vorgegebene Glaubens- und Lehrsätze auskomme und dass sie von uns nur das zu akzeptieren verlange, was wir persönlich für richtig finden. Diese Interpretation der Lehrrede sieht allerdings darüber hinweg, dass der Rat, den der Buddha den Kalamern gab, von der Einschätzung abhing, dass diese noch nicht bereit waren, in ihn und seine Lehre ihr Vertrauen zu setzen. Sie sieht weiterhin darüber hinweg, dass aus genau diesem Grund in diesem Sutta auch jegliche Erwähnung der rechten Ansicht und des gesamten Ausblicks, der sich eröffnet, wenn man zur rechten Ansicht gelangt ist, unterblieben ist. Die Rede bietet stattdessen den vernünftigsten Ratschlag an, den man zu einer heilsamen Lebensweise machen kann, wenn alle weiterführenden Glaubensfragen ausgeklammert worden sind.

Zu Recht lässt sich behaupten, dass jene Aspekte der Buddhalehre, die in unseren gewöhnlichen Erfahrungsbereich fallen, aus eigener persönlicher Erfahrung als richtig bestätigt werden können, und dass eine derartige Bestätigung eine solide Ausgangsbasis bildet, um auch in jene Teile der Lehre Vertrauen zu setzen, welche die gewöhnliche Erfahrung notwendigerweise übersteigen. Vertrauen in die Lehre wird zu keiner Zeit als Selbstzweck betrachtet und genauso wenig als ausreichende Garantie für die Befreiung, sondern nur als Ausgangspunkt für einen Entwicklungsvorgang innerer Umgestaltung, der seine Erfüllung in persönlicher Einsicht findet. Aber damit diese Einsicht eine wahrhaft befreiende Wirkung ausüben kann, muss sie sich innerhalb des Rahmens eines zutreffenden Verständnisses für die wesentlichen Wahrheiten bezüglich unserer Situation in der Welt und des Bereiches, in dem Befreiung zu suchen ist, entfalten. Diese Wahrheiten wurden vom Buddha aufgrund seines tiefgehenden Verständnisses der menschlichen Lage an uns weitergegeben. Sie nach eingehender Prüfung vertrauensvoll anzunehmen, bedeutet, sich auf eine Reise zu begeben, die Vertrauen in Weisheit und Zuversicht in Gewissheit umwandelt, und die in der Befreiung vom Leiden gipfelt.


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